Prof. Dr. Ulrich Magnus (Universität Hamburg, Deutschland)
Wesentliche Fragen des UN-Kaufrechts (V. CISG und EU-Richtlinien).


V. CISG und EU-Richtlinien

Bisher kamen sich EU-Richtlinien und CISG nur am Rande ins Gehege, so etwa bei einigen Produkthaftungsfragen. Denn Personenschäden auf Grund von Produktmängeln erfaßt das UN-Kaufrecht grundsätzlich nicht (Art. 5 CISG); auch nicht den Fall, daß die Ware erst beim Endabnehmer oder sonstigen Dritten einen Personenschaden verursacht, für den der Zwischenhändler zu haften hat und den er seinerseits als eigenen Vermögensschaden von seinem Verkäufer ersetzt verlangt(30). Umgekehrt betrifft die Produkthaftungsrichtlinie im Bereich der Sachschäden nur solche Schäden, die Verbraucher erlitten haben (31). Eine Konkurrenz ist damit nur in den seltenen Fällen möglich, in denen das CISG ausnahmsweise Verbraucherkäufe erfaßt, weil der private Verbraucherzweck dem Verkäufer nicht erkennbar war (Art. 2 lit. a CISG) (32). Wegen ihrer Beschränkung auf Verbraucherkäufe wird auch die EG-Richtlinie über den Verbrauchsgüterkauf und -garantien, deren geänderter Vorschlag (33) jetzt vorliegt, nur begrenzt mit dem CISG in Konflikt geraten, zumal sich der Richtlinienentwurf ausdrücklich am UN-Kaufrecht orientiert (34). Allerdings will die Richtlinie auch einen Regreßanspruch des Letztverkäufers gegen Vorlieferanten einräumen (Art. 3 Abs. 7 RL-Entwurf). Hier tritt sie also bei internationalen Käufen in Konkurrenz zum CISG. Noch schärfer stellt sich die Konkurrenzlage für die geplante Richtlinie zur Bekämpfung des Zahlungsverzugs im Handelsverkehr dar (35). Dieser Richtlinienvorschlag zielt auf den professionellen Geschäftsverkehr und damit auch auf die - internationalen - Fälle, die das CISG erfaßt. Da der Vorschlag auch die Fälligkeit von Forderungen regelt, tritt er insoweit in unmittelbare Konkurrenz zum CISG, das in Art. 58 und 59 seinerseits die Voraussetzungen und den Zeitpunkt der Fälligkeit festlegt. Keine Konkurrenzsituation besteht dagegen im Hinblick auf die Zinshöhe, die das CISG in Art. 78 offenläßt.

Das grundsätzliche Verhältnis zwischen EU-Richtlinien und CISG ist umstritten. Eine verbreitete Auffassung sieht in Richtlinien im Ergebnis "völkerrechtliche Übereinkünfte" ("international agreements", "accord international"), die nach Art. 90 CISG dem UN-Kaufrecht vorgehen, soweit beide Parteien in Vertragsstaaten einer solchen Übereinkunft niedergelassen sind. Art. 90 CISG soll zumindest analog anwendbar sein, weil Richtlinien auf völkerrechtlichen Verträgen, den Gründungsverträgen basierten. Im "Interesse einer möglichst völkerrechtskonformen Anwendung" beider internationaler Normenkomplexe sei sachlich einschlägigen Richtlinien deshalb der Vorrang einzuräumen (36). Nach meiner Auffassung verdrängen Richtlinien das CISG dagegen nicht stets und automatisch (37). Sollen sie diesen Effekt haben, müssen die beteiligten EU-Staaten das gemäß Art. 94 erklären. Denn zum einen sind EU-Richtlinien keine "internationalen Übereinkünfte" im Sinn des Art. 90 CISG, sondern autonome Rechtsetzungsakte einer supranationalen Gemeinschaft eigener Art. Sie kommen damit nicht durch völkerrechtlichen Vertrag zustande, mag auch die erlassende Gemeinschaft selbst durch Staatsverträge gegründet worden sein. Ferner bedürfen Richtlinien der Umsetzung in das nationale Recht; erst nach der Umsetzung gewinnen sie unmittelbare Geltung zwischen Privaten. Sie belassen dem nationalen Gesetzgeber gewöhnlich auch Spielräume, um eine möglichst reibungslose Einpassung der Richtlinienziele in die einzelstaatliche Rechtsordnung zu ermöglichen. Die nationalen Rechte werden damit durch Richtlinien angenähert, aber nicht völlig angeglichen. Das hat die Konsequenz, daß für die Anwendung des umgesetzten Richtlinienrechts vielfach zunächst das IPR eingeschaltet und auf dem kollisionsrechtlichen Weg geklärt werden muß, welchen Landes Richtlinienrecht denn gelten soll. Diesen kollisionsrechtlichen Zwischenschritt will und soll das Einheitsrecht aber gerade erübrigen. Solange das anwendbare Richtlinienrecht in seiner jeweiligen nationalen Umsetzungsform erst kollisionsrechtlich bestimmt werden müßte, verdrängt das Einheitsrecht m.E. deshalb in jedem Fall abweichendes Richtlinienrecht.

Als weitere Überlegung tritt das Argument der Rechtsklarheit und damit Rechtssicherheit hinzu: Ob und wieweit Richtlinienrecht dem CISG widerspricht, läßt sich für den einzelnen Rechtsanwender nur schwer überschauen. Demgegenüber hat die EU es in der Hand, deutlich - nämlich durch Staatsvertrag zwischen den Mitgliedstaaten oder durch eine Erklärung nach Art. 94 CISG, daß das CISG im EU-Gebiet wegen Rechtsgleichheit nicht gelten solle - klarzustellen, daß und wieweit vom CISG abgewichen werden soll. Geschieht dies nicht, dann muß unterstellt werden, daß der Richtliniengeber das CISG, dessen Existenz und weite Verbreitung in der EU ihm geläufig ist und das ihm, wie gesehen, zum Modell eigener Regelung dient, in seiner Reichweite unangetastet lassen wollte.

Ferner ist darauf hinzuweisen, daß ein Richtlinienvorrang auch im Verkehr mit Nicht-EU-Staaten zu Schwierigkeiten führen würde. Zwar gilt die Vorrangregel des Art. 90 CISG nur, wenn beide Parteien im Gebiet der fraglichen "Übereinkunft" niedergelassen sind. Aber damit werden auch drittstaatliche Parteien erfaßt, deren handelnde Niederlassung im Übereinkunftsgebiet liegt (vgl. Art. 10 CISG). Ferner würde eine wenig erfreuliche Spaltung in der Anwendung des CISG - gespalten nach Partnern innerhalb und außerhalb des EU-Gebietes - entstehen. Eine weitere unklare Lage würde sich zudem gegenüber Staaten des Europäischen Wirtschaftsraums und solchen Staaten ergeben, die in autonomem Nachvollzug EU-Richtlinien übernommen haben. In beiden Fällen kann m.E. keine Rede von "internationalen Übereinkünften" sein, durch die die Richtlinien nationales Recht mehrerer Staaten werden. Das Rangverhältnis der Richtlinien zum CISG - oder anderen Einheitsrechtskonventionen - aber etwa danach unterschiedlich zu beurteilen, ob die Richtlinien innerhalb oder außerhalb der EU übernommen wurden, leuchtet erst recht nicht ein.
Anders stellt sich die Lage freilich für das EVÜ dar, das auch als Staatsvertrag abgeschlossen wurde, sich aber auf die Mitgliedstaaten der EU beschränkt. In seinem Art. 20 erkennt es den Vorrang des Gemeinschaftsrechts und der Rechtsakte der Gemeinschaft, damit auch der Richtlinien ausdrücklich an.
Für das CISG ist als Ergebnis festzuhalten, daß ihm EU-Richtlinien nicht vorgehen. Soll ihr Vorrang gesichert werden, muß im Einzelfall jeweils eine Erklärung nach Art. 94 erfolgen oder die Mitgliedstaaten müssen einen das CISG überlagernden neuen Staatsvertrag abschließen - oder das CISG gemeinsam kündigen.



   Anmerkungen:


(30) Herrschende Meinung: Warren Khoo, in: Cesare Massimo Bianca/Michael Joachim Bonell, Commentary on the International Sales Law. The 1980 Vienna Sales Convention (1987), Art. 5 u. 2.2; Rolf Herber, in: Ernst von Caemmerer/Peter Schlechtriem, Kommentar zum Einheitlichen UN-Kaufrecht - CISG - (2. Aufl. 1995), Art. 5 Rn. 7; Rolf Herber/Beate Czerwenka, Internationales Kaufrecht. Kommentar zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 11. April 1980 über Verträge über den Internationalen Warenkauf (1991) Art. 5 Rn. 4; Martin Karollus, UN-Kaufrecht. Eine systematische Darstellung für Studium und Praxis (1991) 44; Kuhlen (oben Fn. 28) 61 f.; Peter Schlechtriem, Internationales UN-Kaufrecht (1996) Rn. 39; Ulrich Magnus, in: Julius v. Staudinger (Hg.), Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen. Wiener UN-Kaufrecht (CISG), 1994, Art. 5 Rn. 7. Anderer Ansicht ohne nähere Erörterung OLG Düsseldorf vom 2.7.1993, RIW 1993, 845.

(31) Vgl. Art. 9 (b) Richtlinie 85/374/EWG vom 25.7.1985, ABl. 1985, Nr. L 210, S. 29.

(32) Vgl. dazu näher Herber, in: von Caemmerer/Schlechtriem (Fn. 30), Art. 2 Rn. 5 ff.; Ferrari (im Text vor Fn. 21) 128 ff.; Burghard Piltz, Internationales Kaufrecht. Das UN-Kaufrecht (Wiener Übereinkommen von 1980) in praxisorientierter Darstellung (1983) § 2 Rn. 59 ff.; Magnus, in: Staudinger (Fn. 30) Art. 2 Rn. 10 ff.

(33) KOM (1998) 217 endg. vom 31.3.1998.

(34) Näher zu dem Richtlinienentwurf insbesondere Ewoud Hondius, Kaufen ohne Risiko: der europäische Richtlinienentwurf zum Verbraucherkauf und zur Verbrauchergarantie, ZEuP 1997, 130 ff.; Peter Schlechtriem ferner auch Anton Schnyder/Ralf Michael Straub, Das EG-Grünbuch über Verbrauchsgütergarantien und Kundendienst - Erster Schritt zu einem einheitlichen EG-Kaufrecht? ZEuP 1996, 8 ff.

(35) ZIP 1998, 1614 ff. Vgl. zu dem Entwurf Eva-Maria Kieninger, Der Richtlinienvorschlag der Europäischen Kommission zur Bekämpfung des Zahlungsverzugs im Handelsverkehr, WM 1998, 2213 ff.; Robert Freitag, Ein Europäisches Verzugsrecht für den Mittelstand, EuZW 1998, 559 ff.; Beate Gsell, Der EU-Richtlinienentwurf zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Handelsverkehr, ZIP 1998, 1569 ff.; Martin Schmidt-Kessel, Zahlungsverzug im Handelsverkehrs - ein neuer Richtlinienentwurf, JZ 1998, 1135 ff.

(36) Herber, in: von Caemmerer/Schlechtriem (Fn. 30) Art. 90 Rn. 12; Herber/Czerwenka (Fn. 30) Art. 90 Rn. 4; ähnlich Siehr, in: Honsell (im Text vor Fn. 21) Art. 90 Rn. 7.

(37) Magnus, in: Staudinger (Fn. 30) Art. 90 Rz. 4.